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------------ Astronomie in Zeiten des Coronavirus ------------

Der Gamma-Cygni-Komplex

(Bericht von Dr. Burkhard Lührmann, November 2020)

Einer der interessantesten Himmelsbereiche, den ich in den letzten drei Jahren mehrmals astrofotografisch betrachtet habe, ist die Region um den hellen Stern Sadr. Dieser Name stammt aus dem Arabischen und bedeutet „Brust“. Somit liegt er im Herzen des Sternbildes Schwan (lat. Cygnus). Die in der Milchstraßenebene befindliche Sadr-Region weist einen reichen Komplex aus Staubwolken und leuchtenden Nebeln auf. Ich werde dieses bis zum Mondsichel-Nebel reichende Gebiet im Folgenden als Gamma-Cygni-Komplex bezeichnen. Es beherbergt eine Reihe von bemerkenswerten Deep-Sky-Objekten. Begeben wir uns auf Objektsuche.

Das folgende Bild ist unter PixInsight und Photoshop als Mosaikausschnitt aus sechs Teilbildern entstanden, die jeweils aus etwa 100×1 Minute Belichtungszeit gewonnen wurden. Die verwendete Aufnahmeausrüstung ist eine EOS 7D mit Zeiss-Objektiv Makro-Planar T* 2/50mm ZE auf der Reisemontierung Polarie.



Das hier gezeigte Sternbild Schwan ist als Ganzes astrometrisch vermessen und enthält drei weiße Rechteckrahmen im Bereich des Gamma-Cygni-Komplexes. Sie deuten die Umrisse von drei Detailaufnahmen an, die mit der Brennweite 1000mm des Refraktors TOA-130 mit dem Fattener FL-67 auf einer 10-Micron Montierung GM 2000 QCI herausgearbeitet wurden. Zusammen mit der CCD-Kamera Moravian G3-16200 ergibt sich eine Fotofeldbreite von 1,6° mit einer theoretischen Pixelauflösung von 1,2“.

Die Aufnahme des Bildes Nr. 1 erfolgte bereits im Oktober 2018, siehe Bericht "34. Internationales Teleskoptreffen (ITT) auf der Emberger Alm".



Es beinhaltet den Überriesenstern Gamma Cygni (Sadr), welchem dieser Bericht seinen Namen verdankt. Er erscheint gelb-weiß (Spektraltyp F8 Iab) und besitzt eine gut 12-fache Masse der Sonne und hat sich auf eine Größe von etwa 150 Sonnenradien ausgedehnt. Seine über das gesamte elektromagnetische Spektrum verteilte Leuchtkraft (bolometrische Helligkeit) ist etwa 33.000-mal so hoch wie die der Sonne. Das geschätzte Alter beträgt erst 12 Millionen Jahre (das Supernova-Schicksal ist unausweichlich).
Auch wenn es bei der Betrachtung so wirken mag, als ob ihn die zahlreichen Nebel einbetten würden, hat Sadr nichts mit ihnen zu tun. Während der Riese etwa 1.800 Lichtjahre von der Erde entfernt liegt, befinden sich die Nebel in einer Distanz von 2.500 bis fast 5.000 Lichtjahren.



Der mit den Pfeilen angedeutete so genannte „Nebel bei Gamma Cygni“ wird selten erwähnt. Dieses helle kleine Nebelfragment steht so dicht beim Stern, dass es bei normalen RGB-Fotos in der Regel überstrahlt wird. Die optische Charakteristik des TOA-130 erweist sich hier als sehr gutmütig. Selbst bei professionellen Sternwarten sind auf den Aufnahmen häufig Farbringe, -flächen, Spikes und sonstige Beugungserscheinungen zu sehen.



Erheblich bekannter ist der Schmetterlingsnebel mit der Katalogbezeichnung IC 1318. Es handelt sich um einen Emissionsnebel, der durch einen heißen blauen Stern der O9-Klasse angeregt wird. Er selbst ist von interstellarem Staub verdeckt.
Der sichtbare Teil dieser HII-Region (Plasma aus ionisiertem atomaren Wasserstoff) erstreckt sich über eine Fläche von mehr als 100 Lichtjahren, welche in die drei Bereiche A, B und C eingeteilt wird. IC 1318B und IC 1318C sind von der 20 Lichtjahre breiten Dunkelwolke LDN 889 scheinbar getrennt und bilden den oberen bzw. unteren Schmetterlingsflügel. IC 1318A befindet sich weiter rechts oberhalb des Bildes Nr. 1.

Der Schmetterlingsnebel ist noch durch eine ganze Reihe weiterer kleinerer Staubnebel durchsetzt. Besonders eindrucksvoll ist Barnard 347.



In der Literatur sind leider keine sicheren Angaben zur Entfernung dieses besonders dichten Dunkelnebels zu finden. Vermutlich handelt es sich aber um eine Materieverdichtung im Bereich des Gamma-Cygni-Komplexes. Der auffällig orange Stern (RW Cygni, HIP 101023) ist ein roter Überriese mit veränderlicher Helligkeit.
Ein weiteres Exemplar von Staubnebeln ist vor dem oberen Flügel (IC 1318B) zu finden.



Auch hierzu gibt es praktisch keine weiteren Daten.

Inmitten des riesigen Dunkelnebels LDN 889 befindet sich der kleine blaue Reflexionsnebel GN 20.25.3 rechts neben dem orangen Stern TYC3156-1027-1.



Der zentrale bläuliche Stern TYC3156-1667-1 liegt sekundären Quellen nach von der Erde nur 37 Lichtjahre entfernt, sodass dieser nicht für eine Beleuchtung infrage kommt. Auch der mit 167 Lichtjahren entfernte orange Nachbar liegt uns noch zu nahe.

Weiter südlich innerhalb des Staubbandes LDN 889 ist DWB 70 zu finden. Bemerkenswert ist an dieser HII-Region, dass sie vor der Staubwand liegt und damit die große Tiefe des Gamma-Cygni-Komplexes zum Ausdruck bringt.



Auch der offene Sternhaufen NGC 6910 am oberen rechten Bildrand ist noch erwähnenswert. Wilhelm Herschel entdeckte diesen bereits 1786.



Der in diesem Ausschnitt vorherrschende interstellare Staub verursacht durch Extinktion und Rötung eine gelbliche Verfärbung der Sterne. Die bläulichen Vordergrundsterne stehen dazu in einem schönen Kontrast.

Die folgende Abbildung zeigt das Bild Nr. 1 mit allen angesprochenen Objekten.



Nach unten rechts setzt sich der Gamma-Cygni-Komplex über die HII-Region DWB 57 in dem Bild Nr. 2 weiter fort.



Die zugrunde liegenden Belichtungen erfolgten in den Nächten vom 11., 13., 15., 17. und 21.09.2020 in Hasbergen auf meiner Balkonsternwarte. Dazu gehören 33 Luminanz- und 3-mal 19 RGB-Aufnahmen á 240 Sekunden. Zur weiteren Kontrastverstärkung dienen 16 H-alpha-Bilder, die jeweils 600 Sekunden belichtet wurden. Die Bildkomponenten entstanden mithilfe der LRGB-Filter der Astrodon Gen 2 E-Series und dem Astrodon Narrowband H-alpha 3nm. Die Gesamtbelichtungszeit beträgt damit 8 Stunden und 40 Minuten.

In Bild Nr. 2 dominiert der Emissionsnebel LBN 234. Neben dem Schmetterlingsnebel ist er einer von zwei weiteren relativ hellen Bereichen der HII-Region um Gamma Cygni. Er wird durch eingelagerte Staubwolken und Ionisationsfronten reich strukturiert und setzt sich in DWB 34 und 30 fort. Rot und blau brennende Vordergrundsterne lockern das Bild ästhetisch auf. Der rote Veränderliche HD 193469 (TYC 3151-3441-1) ist besonders auffällig. Mit einem Abstand von gut 4.800 Lichtjahren dürfte er sich dicht vor LBN 234 befinden. Die nächste Abbildung zeigt die Lage der interessantesten Objekte.



Nördlich des Emissionsnebels DWB 40 liegen zahlreiche Dunkelnebel mit unterschiedlichen Helligkeiten. Ein im Zentrum wirklich rabenschwarzes Exemplar ist LDN 881. Es befindet sich am rechten Rand der folgenden Abbildung.



Der ganze Dunkelnebelkomplex erinnert etwas an einen Drachen, sodass auch die Bezeichnung Dragon Nebula verwendet wird.
Ein weiteres Beispiel nur etwas südlicher ist der Staubnebel LDN 882 in der Mitte des folgenden Bildes.



Neben zahlreichen Emissions- und Dunkelnebel lassen sich auch Reflexionsnebel finden. Dazu gehört vdB 130, der mit einem sehr jungen offenen Cluster assoziiert ist.



Der rotbräunlich erscheinende kreisrunde Reflexionsnebel ist durch die zwei Pfeile angedeutet. Im Zentrum und in der scheinbar unmittelbaren Umgebung befindet sich eine Reihe von Sternen. Die Beleuchtung soll aber durch den etwas weiter rechts positionierten Stern HD 228789 erfolgen, der Teil eines Sternhaufens ist.

Am rechten Rand der Emissionswolke DWB 30 ist der farblich gleich aussehende Reflexionsnebel GM 2-39 zu finden. Er umgibt den Emissionslinienstern HBHA 3703-01 und ist im nächsten Bild durch einen Pfeil markiert.



GM 2-39 bildet den Kopf einer so genannten kometaren Globule, die sich hier als dunkler Staubschweif nach rechts ausbreitet. Der von unten kegelförmig vor den Reflexionsnebel hervorragende Dunkelnebel wird wiederum an seinem unteren Rand durch eine H-alpha-Front scheinbar begrenzt. Diese Strukturen sind nach kosmischen Maßstäben also dicht hintereinander gestaffelt. Was für ein Spektakel! Man darf dabei aber nicht die wahren Dimensionen vergessen. Wenn ich eine Entfernung von etwa 4.800 Lichtjahren annehme, berechne ich für den sichtbaren Konusnebel eine Höhe von fast 1,7 Lichtjahren, also gut 100.000 astronomischen Einheiten!
Wie Bernhard Hubl schreibt, lassen sich in diesem Gebiet noch einige weitere kometare Globulen entdecken, die vermutlich durch den enormen Strahlungsdruck der Sterne der Cyg OB1 Assoziation geformt werden.

Mit einem kleinen Bildstreifenausschnitt verlassen wir das aufregende Bild Nr. 2 …



… und betreten weiter nach unten rechts das Bild Nr. 3. Im Unterschied zu den beiden vorangegangenen Motiven scheint sich das Weltall wieder etwas zu beruhigen.



Der Gamma-Cygni-Komplex klingt mit den Emissionsnebeln DWB 20 (unten links) und LBN 208 (oben rechts) allmählich aus. Dafür bläst sich in gleicher Entfernung der Mondsichel-Nebel (Crescent nebula) mit der Katalogbezeichnung NGC 6888 in diesem Bereich wie eine Schmuckperle auf. 1792 wurde er von Wilhelm Herschel entdeckt und als planetarischer Nebel verbucht. Später fand seine Katalogisierung als Supernovaüberrest statt. Tatsächlich handelt es sich aber weder um das eine noch das andere, sondern um einen selten zu beobachtenden Wolf-Rayet-Nebel.



Dieser Emissionsnebel wird von einem so genannten Wolf-Rayet-Stern mit der Bezeichnung WR 136 beleuchtet. Vermutlich wurde das Gas des Nebels ebenfalls von diesem Stern abgestoßen. Diese Sterne zählen zu den massereichen und heißen Sternen mit enorm starken Sternwinden von etwa 2000 Kilometern pro Sekunde, wodurch sie in nur 10.000 Jahren die gesamte Masse unserer Sonne verlieren können. Der Zentralstern strahlt etwa 5.000-mal heller als unsere Sonne (bolometrisch mit Strahlungsmaximum im UV-Bereich). Schon in den nächsten Millionen Jahren wird dieser aktive Stern als Supernova explodieren.

Die Ionisation des Gasnebels erfolgt einerseits durch den Zentralstern selbst und andererseits durch Kollision der starken Sternwinde mit dem dichten interstellaren Medium, was eine aufheizende Stoßfront zur Folge hat. Der folgende Bildausschnitt aus dem H-alpha-Kanal (mit unterdrückten Sternen) lässt diese Gewalten an Energie und Masse erahnen.



Der bis jetzt entstandene Nebel umfasst ein Areal von 25×16 Lichtjahren, wobei sich die Stoßfront mit etwa 85 Kilometern pro Sekunde weiter ausdehnt.

Das Bild Nr. 3 wurde in den Nächten vom 18., 19., 20. und 21.09.2020 ebenfalls in Hasbergen mit demselben Equipment wie für Bild Nr. 2 aufgenommen. Die Zusammenstellung erfolgte aus 40 Luminanz- und (19/20/20) RGB-Aufnahmen á 240 Sekunden. Zur weiteren Kontrastverstärkung dienen 18 H-alpha-Bilder, die jeweils 600 Sekunden belichtet wurden. Die Gesamtbelichtungszeit beträgt damit 9 Stunden und 36 Minuten.
Besonders empfehlenswert wäre für dieses Motiv noch zusätzliche Belichtungszeit mit einem OIII-Filter, weil WR 136 durch seine hohen Temperaturen den Nebel stark ionisiert und gerade in diesem Spektralbereich des zweifach ionisierten Sauerstoffs zum Leuchten anregt. Auch für das nächste Objekt wäre ein solcher Filter hilfreich. Er stand leider nicht zur Verfügung.

Vielleicht hat sich schon ein Leser gefragt, warum der Mondsichel-Nebel im Bild Nr. 3 nicht genau mittig ausgerichtet wurde. Dies hatte seinen Grund. In meiner Vermessenheit hoffte ich, etwas an dieser Stelle zu entdecken:



Es ist ein Ausschnitt aus dem unteren linken Bereich, der an DWB 20 grenzt. Ohne zu wissen, wonach man suchen muss, hat man keine Chance, es zu finden. Daher wurde dieses Objekt an der eigentlich sehr gut erforschten Stelle der Milchstraße erst am 6. Juli 2008 vom Amateurastronomen Dave Jurasevich entdeckt. Schauen wir uns doch den gleichen Ausschnitt im H-alpha-Bild mit unterdrückten Sternen an:



Ahhhh, der Seifenblasen-Nebel im Schwan! Am 16. Juli 2009 wurde er von der Internationalen Astronomischen Union (IAU) als neuer planetarischer Nebel mit der Bezeichnung PN G75.5+1.7 anerkannt.
Die feine kugelförmige Struktur ist wegen ihrer sehr zarten Färbung auch auf Spezialfotografien kaum erkennbar. Üblicherweise werden Fotos von Teleskopen wie dem 4-Meter-Teleskop Kitt Peak Mayall in Arizona gezeigt, die sich aus H-alpha-, SII- und OIII-Schmalbandbelichtungen über 20 Stunden ergeben.
Die folgende Abbildung zeigt einen Ausschnitt, in dem sich der Mondsichel- und Seifenblasen-Nebel gemeinsam befinden.



Der Helligkeitsunterschied ist schon enorm. Eine aufwändigere Bildbearbeitung, bei welcher der Hintergrund aus dem H-alpha-Kanal entfernt und dies als Luminanzsteuerung über das LRGB-Bild gelegt wurde, führt zu einem Resultat, das eher frei künstlerisch als realistisch bezeichnet werden muss.



Die sphärische Symmetrie der Schale ist bemerkenswert und regt an, nach weiteren derartigen Objekten zu suchen. Für den NVO (Naturwissenschaftlicher Verein Osnabrück) gibt es noch viel zu tun.

In der folgenden Abbildung sind alle im Bild Nr. 3 angesprochenen Objekte verzeichnet.



Natürlich konnte ich es nicht unterlassen, aus allen drei Bildern ein Mosaik zusammenzusetzen. Dies erfolgte durch astrometrische Überlagerung in PixInsight und weitere Bearbeitungen in Photoshop.



Im Originalbild ergibt sich damit eine Abmessung von 11.462×9.079 Pixel. Die insgesamt verwendete Belichtungszeit beträgt 20 Stunden und 37 Minuten.
Um die beeindruckende Auflösung dieses Gesamtbildes zu erkennen, habe ich einen Streifenausschnitt diagonal durch das Mosaik gelegt. Im Original besitzt das Bild eine Höhe von über 13.300 Pixel. Ich wünsche viel Vergnügen beim Scrollen!




Literatur/Infos:
Wikipedia: IC 1318
Constellation Guide: Gamma Cygni Nebula (Sadr Region)
bgaehrken@web.de: DER Nebel bei Gamma Cygni
Star-facts.com: Sadr
Capella-observatory.com: IC 138, GN 20.25.3, PK 078.9+007 in Cygnus
Spektrum.de: NGC 6910
astro-photos.net: LBN 234 und LDN 881 im Schwan
eddb.io/system/1741576: System HD 193469
Thomas Henne: vdB 130 und GM 2-39
Astrophotography by Bernhard Hubl: GM 2-39
M. T. Costado, E. J. Alfaro, M. González, L. Sampedro: Analysis of the kinematic structure of the Cygnus OB1 association
Wikipedia: NGC 6888
Astronomie.de: NGC 6888
Wikipedia: Seifenblasen-Nebel
NOIRLab: Soap Bubble Nebula, PN G75.5+1.7
apod.nasa.gov/apod/ap081113: Astronomy Picture of the Day




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